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Topic Models, Part One: Limited Liberty. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Grenzen

  • Autorenbild: Thomas Lassner
    Thomas Lassner
  • 1. Juli 2024
  • 4 Min. Lesezeit

Topic Models - war eine dreiteilige Projektreihe an drei Off-Space-Orten in Hamburg 2021, in denen das R&STkollektiv die Relevanz lokaler künstlerischer Äußerungen in Zeiten pandemischer Verwerfungen und globaler Krisen befragte. In den Arbeiten wurden Objekte und Installationen aus Restbeständen des R&STarchivs mit Gegenständen aus dem täglichen Lebens kombiniert. Die drei Texte wurden verfasst, um die Projektreihe inhaltlich zu begleiten.


Grenzen

Die Geschichte der Zivilisation ist eine Geschichte der Grenzziehungen. Nur sehr wenige Beispiele in der Menschheitsgeschichte sind bekannt, in denen Zivilisationen ihre Identität nicht durch äußere Grenzen und Mauern behauptet hätten. So ist es auch kein Zufall, dass ein bedeutender Teil sogenannter Baudenkmäler aus Mauern, Wällen und sonstigen Bollwerken der Verteidigung gegen fremde Eindringlinge besteht. So scheint ein bedeutender Teil der Geschichte der Zivilisationen aus Monumenten der Abgrenzung zu bestehen, führt man sich vor Augen, dass zahllose Touristen allenthalben in Massen durch alte Burgen und entlang halb verfallener Mauern strömen, um einen kurzen Moment “Geschichte” zu erleben. Das, was gemeinhin für “Kultur” gehalten wird, sind vielleicht oft einfach die stabilsten Überreste vergangener Gesellschaften. Zusammen mit all den sakralen Bauten, die überall, wo Menschen sich irgendwann einmal entschlossen haben, ein Territorium zu bewohnen, zu kultivieren und zu umgrenzen, errichtet wurden, erscheint die Geschichte der Menschheit insgesamt vor allem auf den zwei Prinzipien Abgrenzung und Religiosität, oder anders: Differenz und Transzendenz errichtet zu sein. 


Identität und Differenz

In diesem Spannungsverhältnis von Differenz und Transzendenz lässt sich Identität generell betrachten insofern, dass mit sich gleich zu sein bedeutet, sich von anderen zu unterscheiden und sich gleichzeitig in einem spezifischen Kontext befindlich zu begreifen. Das gilt für reflektierende Bewusstseine ebenso wie für andere Gegenstände. So bin ich nicht mein Bruder und gleichzeitig sind wir Geschwister; das gehört zu unserem jeweiligen Selbstverständnis dazu. Ebenso ist mir eine Kugel Erdbeereis in der Waffel lieber als eine Kugel Pistazieneis auf dem Boden, wenn Erdbeere meine Lieblingssorte ist. -  Differenz und Transzendenz. - Seitdem Menschen systematisch über ihre Stellung im Kosmos nachdenken, denken sie auch über das eigene Denken nach. Mit der Kraft der Vernunft hat es der Mensch geschafft, sich die Erde gefügig zu machen und so führt die Geschichte der Zivilisation von der Erfindung des Feuers über die Erfindung des Schwarzpulvers bis zur Atombombe. Seit dem ersten, durch Menschenhand geschriebenen Wort hängen Vernunft und Herrschaft eng zusammen. 


Vernunft und Herrschaft

Geprägt durch die Erfahrungen des europäischen Faschismus und die Erkenntnis, dass offenbar im Zusammenspiel von Vernunft und Herrschaft auch Herrschaft zum bestimmenden gesellschaftlichen Prinzip werden kann, sahen sich zahlreiche Philosoph*innen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor der Frage stehen, wie sich dieses Verhältnis so auflösen lasse, dass man theoretisch Herrschaft überwinden und gleichzeitig Vernunft bewahren könne. Adorno und Horkheimer schreiben beispielsweise in der Dialektik der Aufklärung: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ und weisen damit auf genau jenes Ineinandergreifen von Vernunft und Herrschaft hin. 


Antiform

Auch andere Autoren unterziehen in dieser Zeit die Vernunft einer radikalen Selbstkritik. Einer von ihnen ist Paul Virilio. Dieser schreibt in der Einleitung seines Textes Der Negative Horizont von seiner eigenen Erfahrung, von dem Versuch, eine menschliche Gestalt zu zeichnen. In seiner Schilderung geht dem Malen der künstlerische Blick voraus, indem er den Gegenstand, den er zu malen beabsichtigt, in seiner Eigentümlichkeit wahrzunehmen versucht. Virilio schildert einen besonderen Wendepunkt dieser Beobachtungsübung, der sich in dem Moment einstellt, als er nicht mehr die Gegenstände selbst fokussiert, sondern sich auf die Zwischenräume konzentriert. Wie in einem Vexierbild erscheint ihm die gesamte Umwelt nun angefüllt von “Antiformen”. 


Wahrnehmungsgewohnheit

Nicht wie in dem Klischee von der Rückseite (des Mondes), die den stets unsichtbaren Aspekt einer Sache ausmacht, sondern durch den Blick für die Zwischenräume gewinnt er zusätzliche Erkenntnis über die Gegenstände seiner Betrachtung. Anders als bei jener etwas klischeehaften Erkenntnis, dass alles, was eine Vorderseite hat, auch eine Seite hat, die verborgen bleibt, entwickelt Virilio durch den Terminus der Antiformen seine Vernunftkritik. Denn in der Dichotomie von Form und Antiform ist der sichtbare Aspekt einer Sache das Resultat einer Wahrnehmungsgewohnheit. Diese überformt die Gegenstände mit ihren definierten Begriffen und tradierten Kategorien. Die Herrschaft dieser Art von Vernunft wendet den Blick der Menschen auf die Umrisse, oder eben: Grenzen, einer Sache und bestimmt damit, was an ihr unsichtbar bleibt, nämlich das, was sie nicht ist. Doch nur mit Blick auf die Dialektik von Identität und nicht-Identität, nämlich die gleichzeitige Betrachtung dessen, was Aspekte einer Sache und was ihre Aspekte nicht sind, wird die Sache selbst, oder was Hegel das “Wesen” nennt, erfahrbar. 


Slug Slime Painting

Dem Autor und Zeichner Virilio wird dieser Zusammenhang durch lange Betrachtung ersichtlich. Es scheint für ihn die Erkenntnis der Antiformen erst durch die intensive Betrachtung der Formen möglich zu sein. So scheint es eine vielversprechende Übung zu sein, mit dem eigenen Blick zu spielen. Die künstlerisch-spielerische Praxis des Slug-Slime-Paintings spielt auf diese Weise mit dem Verhältnis von Form und antiform. Langsam könnte der Blick etwa den Spuren der Schnecken folgen, die ihre Bahnen auf der Schaufenster-Bemalung ziehen. Hier vollzieht sich modellhaft, was im Großen jederzeit passiert: Das Spiel von sehen und gesehen-werden vollzieht sich als ein Spiel der Grenzziehungen, Begegnungen und Überschneidungen. Es könnte sein, dass sich auch hier, je länger man den wachsenden Formen auf der Scheibe folgt, das Bild irgendwann kippt und dann der Blick für die Antiformen frei wird. Was einem dieser Blick über das "Wesen" der Zivilisation verrät, wenn man lange genug auf ihre Grenzen blickt, das steht auf einem anderen Blatt …

 
 
 

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