Kritik der Gewalt revisited
- Thomas Lassner
- 26. Juli 2024
- 4 Min. Lesezeit

Im “Superwahljahr” 2024 scheint sich die Lage der Gesellschaft zuzuspitzen und die Verrohung in die Politik Einzug zu halten: Die Rede ist von einer tief gespaltenen Gesellschaft. Auch in der Bundesrepublik kommt es im Vorfeld mehrerer Wahlen immer wieder zu körperlichen Angriffen auf Politiker*innen. Am 13. Juli wird Trump durch eine Kugel leicht verletzt. Genau eine Woche später, am 20. Juli wird des “heldenhaften” Anschlagsversuchs von Stauffenbergs gedacht. Eine gute Gelegenheit also, sich noch einmal ein paar Gedanken zum Thema politische Gewalt zu machen.
“Keine Gewalt”
Nachdem Donald Trump nach einem gescheiterten Anschlag leicht am Ohr verletzt wurde, war der amtierende Präsident Joe Biden einer der ersten, die sich öffentlich dazu äußerten. Er verurteilte die Tat und betonte die Wichtigkeit gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Tagesschau zitiert ihn indirekt: “Für diese Art der Gewalt gebe es keinen Platz in den USA”. Auch deutsche Politiker*innen stimmten in den Chor mit ein und betonten, dass sie die Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung insgesamt ablehnten. All diese Gesten sind weder außergewöhnlich noch sonderlich kritikwürdig und sind vielmehr Symptome eines normalen und anständigen Umgangs. Und in der Tat scheint ja das Ringen um Dialog und Diplomatie eine der wichtigsten Eigenschaften moderner Demokratien zu sein: Auch im Dissens Lösungen und Kompromisse anzustreben und sich dabei auf verbale Gefechte zu beschränken.
Gewalt und Politik
Doch stimmt es denn überhaupt, dass - wie Annalena Baerbock betonte - Gewalt niemals das Mittel der politischen Auseinandersetzung sein dürfe? Immerhin reicht ein kurzer Blick in die lange Geschichte der politischen Theorie, um festzustellen, dass ein großer Teil dieser Disziplin von der Gewalt handelt und davon, wie sie zu handhaben sei. Ein Modell, das dem heutigen Demokratieverständnis zugrunde liegt, besteht in der Hypothese eines rechtlosen und gewaltvollen Naturzustandes, gegen den der Gesellschaftsvertrag geschlossen wird. Für diese Hypothese ist die Vorstellung zentral, dass Gewalt, die im Naturzustand privat ist, politisch wird, indem sie an ein irgendwie geartetes Gemeinwesen delegiert wird. Doch gehen wir noch mal einen Schritt zurück:
Waffen
Natürlich ist Bidens Stellungnahme zur Gewalt normativ zu verstehen. Doch es ist schon auffällig, dass ausgerechnet Trump, dessen Erfolg maßgeblich von der Unterstützung und Propagierung einer laissez-fairen Waffengesetzgebung in den USA lebt, von einer Kugel gestreift wird, die aus dem Lauf einer der meistverkauften Feuerwaffen in den USA kommt. Zudem war es derselbe Trump, der bekanntermaßen einen aufgebrachten Mob dazu brachte, das Kapitol zu stürmen und der unter anderem deswegen angeklagt war. Die rhetorische Gewalt des “Grab 'em by the pussy” ist nicht zu unterschätzen und trägt dazu bei, einen relevanten Teil der Bevölkerung aufzuwiegeln. Schon Ende der 40er Jahre zeigte Leo Löwenthal in seiner Studie Falsche Propheten, dass die gewalttätige Rhetorik ein wichtiges Instrument des faschistischen Agitators ist und jüngere Studien zu Hatespeech im Internet legen nahe, dass aus dieser Rhetorik auch Taten folgen. Die Geschichte der rassistischen Gewalt allein in Deutschland legt ein Zeugnis dafür ab. Ich möchte also dafür plädieren, diese Form der Gewalt als eine Konstante in einem bestimmten Teil des politischen Alltags zu begreifen. Die Konsequenz daraus wäre, nicht einigermaßen in Blaue hinein Gewalt per se zu verurteilen, sondern das Problem der faschistischen und mordlüsternen Agitation zu benennen, auch wenn es in diesem Fall den Agitator selbst getroffen hat. Und vielleicht ist es, gerade weil man zum aktuellen Stand nichts über das Motiv des Täters weiß, einigermaßen vage, “diese Art der Gewalt” zu verurteilen.
Politische Gewalt?
Auf einer abstrakten Ebene ist es schlicht falsch, dass demokratische Systeme frei von Gewalt wären. Sie ist lediglich geteilt. Diese Idee ist theoretisch sehr fortschrittlich und sie sichert die formalen Bedingungen für Rechtssicherheit und Gerechtigkeit ab. Das ist eine Errungenschaft, hinter die ich persönlich nicht mehr zurücktreten möchte. Doch gleichzeitig zeigt die alltägliche Praxis, dass die Anwendung der geteilten Gewalt nicht immer gerecht ist. Die zahlreichen “Einzelfälle” rassistischer Übergriffe durch die Polizei, sogenannte “politische Urteile” vor Gericht und viele andere Beispiele zeigen, dass gerade für marginalisierte Personen auch im Rechtsstaat politische Gewalt ein alltägliches Problem ist. Der Mord an George Floyd ist nur ein Beispiel. Besonders pikant ist in dem Licht, dass ausgerechnet Olaf Scholz, der nach dem gescheiterten Trump-Attentat verlauten ließ: “Solche Gewalttaten bedrohen die Demokratie”, zu seiner Zeit als Hamburger Innensenator indirekt den Tod eines 19-Jährigen durch Brechmitteleinsatz zu verantworten hat. Eine Aufarbeitung hat nie stattgefunden. Wenn Zivilisten sterben, ist die Demokratie offenbar nicht bedroht.
Kritik der Gewalt
Die theoretische Beschäftigung mit der Gewalt zeigt, dass sie im politischen Kontext untrennbar mit der Frage nach Gerechtigkeit verbunden ist. Durch die lange Geschichte der politischen Theorie zieht sich die Diskussion um die Frage nach der gerechten Anwendung von Gewalt und, wie Walter Benjamin in seiner Analyse Zur Kritik der Gewalt darlegt, wie sie mit der Abwägung von gerechten Mitteln und Zwecken zusammenhängt. Zu den kontroversesten Fragen in dieser alten Diskussion gehört der Tyrannenmord: Ist es sittlich erlaubt oder gar geboten, dass Angehörige einer politischen Gemeinschaft sich notfalls mit Gewalt gegen einen ungerechten Herrscher auflehnen? Wie dramatisch das ist, zeigt etwa Albert Camus in seinem Drama Die Gerechten, das vom Anschlag auf den Zaren von Russland handelt. Die Attentäter sind sich über die gerechten Zwecke ihrer Tat einig und leiden doch unter den Mitteln, die sie hierfür einsetzen.
Welche Gewalt?
Der historische Vergleich ist immer verlockend und gebietet darum Vorsicht. Natürlich ist Trump kein Nationalsozialist und auch höchstens ansatzweise mit Adolf Hitler vergleichbar. Die sehr unterschiedliche öffentliche Wahrnehmung der beiden Anschlagsversuche: kategorische Verurteilung einerseits und lobendes Gedenken andererseits können zum Anlass genommen werden, das unreflektierte Verhältnis der öffentlichen Meinung zur Gewalt zu kritisieren. Eine solche Kritik richtet sich vor allem gegen die Tabuisierung der Gewalt, weniger gegen ihre inhaltliche Ablehnung. Das Problem besteht darin, dass die Unfähigkeit, politische Gewalt in ihrer Komplexität zu begreifen, in die Unfähigkeit mündet, Gewalttaten zu verstehen. Ohne ein Verständnis derjenigen gesellschaftlichen Mechanismen, durch die politische Gewalt organisiert ist, bleibt als einzige mögliche Reaktion auf jegliches Auftreten gewalttätiger Handlungen ihre instinktive Ablehnung. Was auf der Grundlage nicht möglich ist, ist die politische Analyse und eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Fragen, wie: "Ist die amerikanische Gesellschaft gespalten?" Auch die Antwort auf die Frage, was "diese Art der Gewalt", für die in der Demokratie angeblich kein Platz sei, eigentlich meint, muss dann zwangsläufig vage bleiben.



Kommentare